Historische Theologie

Armin Wenz: Philologia Sacra und Auslegung der Heiligen Schrift

Armin Wenz: Philologia Sacra und Auslegung der Heiligen Schrift. Studien zum Werk des lutherischen Barocktheologen Salomon Glassius (1593–1656), Historia Hermeneutica Series Studia, 20, Berlin / Boston: De Gruyter, 2020, Hb., XIV, 892 S., € 149,95, ISBN 978-3-11-064948-2


Die umfangreiche Arbeit ist über viele Jahre hindurch neben der Gemeindearbeit entstanden.

Als Zielsetzung der Arbeit wird formuliert: „(Am) Beispiel von Salomon Glassius einen frühneuzeitlichen Vertreter reformatorischer Schrifthermeneutik (ist) zu erschließen, daß Erbauungstheologie, dogmatische Schriftlehre, hermeneutische Grundlegung, grammatisch-rhetorische Enzyklopädie, Exegese und praktische Homiletik in ihrer Bezogenheit aufeinander ansichtig werden.“ (38).

Salomon Glassius (1593–1656), zuletzt Generalsuperintendent in Gotha, dürfte abgesehen von Kirchenhistorikern, die sich mit dem 17. Jahrhundert beschäftigen, kaum noch jemandem bekannt sein. Dabei war er zu seiner Zeit und auch noch in den folgenden Jahrzehnten bedeutend, wenngleich er nicht den Bekanntheitsgrad seines großen Lehrers Johann Gerhard erreichte, dessen neunbändige Dogmatik („Loci theologici“) als ein Standardwerk der lutherischen Orthodoxie gelten muss, das noch im 19. Jahrhundert eine Neuauflage erfuhr. Glassius war nicht nur Mitarbeiter der von Gerhard begonnenen sog. „Kurfürstenbibel“, auch als „Weimarer Bibel“ oder „Ernestinische Bibel“ oder wegen ihres Erscheinungsorts auch „Nürnberger Bibel“ genannt, die mit ihren in den Text eingeschobenen Erklärungen für die damalige Zeit einen vergleichbaren Einfluss hatte wie im 20. Jahrhundert die „Stuttgarter Bibel“ mit ihren Erklärungen, sondern er verfasste auch die umfangreiche Einleitung zu diesem Werk, die im vorliegenden Band unter den gewählten Fragestellungen umfassend ausgewertet wird.

Glassius war zudem als Gothaer Superintendent beteiligt an dem ersten, landesweit angelegten Versuch Herzog Ernsts von Sachsen-Gotha („Ernst der Fromme“), eine Kirchenreform – und mithin eine Reform der gesellschaftlichen Verhältnisse in seinem Territorium durchzuführen. Welchen Einfluss Glassius freilich dabei hatte, ist nicht unumstritten. So will Wenz ihm deutlich mehr Bedeutung dabei zuschreiben als Veronika Albrecht-Birkner in ihrer Arbeit zu diesem Reformwerk (V. Albrecht-Birkner, Reformation des Lebens, Leipzig 2002).

Die sehr feingliedrige Arbeit umfasst über das Einleitungskapitel hinaus fünf große Abschnitte, die sich einerseits mit Fragen der Philologie beschäftigen (Kap. 2–5) und andererseits das exegetische Werk (Kap. 6) und die homiletisch-poimenische Zielsetzung der Schriftauslegung untersuchen (Kap. 7). Kap. 8 schließlich ist überschrieben „Die kanonisch-sakramentale Hermeneutik – Zusammenfassung und Ausblick“. Darin wird deutlich sichtbar, was sich in den unterschiedlichen Fragestellungen und Zugängen bei der Behandlung der Schriftlehre bei Glassius reichlich zeigt. Wenz spricht von einer trinitätstheologisch geleiteten kondeszendentalen Selbstoffenbarung Gottes in der Schrift (786f; vgl. 444). Diese Denkfigur korrespondiert mit der Kondeszendenz des Gottessohnes am Kreuz, „von dem her sich das Blut Christi, die Grenzen von Raum und Zeit überwindend, heilsstiftend ergießt auf alle Gläubigen des Alten Testaments wie der Kirche“ (787). An dieser Stelle gibt Wenz – unter Rückverweisen auf die entsprechenden Behandlungen der Lehraussagen von Glassius (440ff) – der Parallelität der Kondeszendenz der Gottesoffenbarung im Wort der Schrift und im Gottessohn seine für ihn entscheidende Wendung: „Die christologische exinanitio erstreckt sich auch auf das Buch der Schrift, so daß von ihr gesagt werden kann, sie sei gleichsam mit dem Blut Christi geschrieben“. Dabei geht es um eine Anwandlung des sich offenbarenden Gottes an den Menschen „in seiner Leibhaftigkeit mit allen Sinnen“ (788), wodurch der ganzheitlich akkomodierte „ewige Logos“ durch seine Vita auch das Leben der Seinen heiligt. „In diesem Geschehen ist die Schrift Alten und Neuen Testaments das im israelitischen Gottesvolk wie in der neutestamentlichen Kirche aus Juden und Heiden in menschliche Sprachen überlieferte kanonische Dokument und sakramentale Medium testamentarischer Selbstverpflichtung und Heilszueignung.“ (788). Die Schrift erhält somit göttliche Eigenschaften, ohne selbst mit Gott identisch zu werden (788) und sie bekommt damit einen sakramentalen Charakter – mehr noch sie ist „gegenwärtig wirksames Sakrament“ (800).

In dem Versuch, Glassius theologiegeschichtlich einzuordnen, werden zunächst die Anklänge zusammengetragen, die von den Kirchenvätern, Martin Luther und – natürlich – Johann Gerhard u. a. bekannt sind (808–811), bevor eine auf den ersten Blick überraschende Verbindung in das Jahrhundert nach Glassius geknüpft wird: zu Johann Georg Hamann (1730–1788), dem „Magus des Nordens“ und Königsberger Antipoden Immanuel Kants. Dieser hatte dem Kantschen Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus das „Dreigestirn“ „Überlieferung, Erfahrung und Sprache“ entgegengesetzt (812f). Wenz folgert: „So entdeckt Hamann in fruchtbarer Aufnahme der lutherischen Christologie und Abendmahlslehre den schöpferisch-sakramentalen Charakter der Sprache und überwindet von daher die Diastase von Empirismus und Idealismus“ und „Der christologische Topos der communicatio idiomatum […] wird daher zur Grundlage für Hamanns Metakritik der reinen Vernunft“ (813).

Damit scheint Wenz zum eigentlichen Ziel seiner Arbeit gekommen zu sein: Die Möglichkeit der „Anknüpfung an präkantianische Hermeneutik zu einer metakritischen Hermeneutik“ (817), wie sie bei Hamann zu finden ist. Neben Hamann werden weitere Beispiele gezeigt, anhand derer vorgeführt wird, dass solche „mit Glassius̕ Arbeit kompatiblen hermeneutischen und exegetischen Ansätze […] sich durch dadurch aus(zeichnen), daß sie die Intertextualitätsperspektive der klassischen traditions- oder wirkungsgeschichtlichen Perspektive vorziehen.“ Glassius‘ Arbeit ist, so Wenz, „auch über die zeitliche Distanz hinweg kontextualisierbar“ (831). Sein Abschlussvotum lautet: „So führt multimediale, kanonisch-sakramentale Bibelhermeneutik im Horizont der geschöpflichen und kulturellen Lebenskontexte des Menschen zum Programm einer ‚geistlichen Phänomenologie, die ihren Grund im Glauben hat, daß Gott sichtbar geworden ist, wo man es nicht vermutet hätte: in einem Menschen, der doch über sich hinaus den Weg weist zu Gott, weil er selbst Gott ist‘ (zit. von Anselm Steiger)“ (835).

Was sich bei der Lektüre des ganzen Bandes mehr als nur andeutet, dass es nämlich vornehmlich um eine systematisch orientierte Frage, nämlich die der Bibelhermeneutik geht, tritt mit dem Schlusskapitel klar hervor. Auch für seine Glassiusdarstellung wählt Wenz die „Intertextualisierungsperspektive“, womit die traditions- und/oder wirkungsgeschichtliche Perspektive nicht völlig übersehen wird, aber deutlich zur Seite tritt. Auch die prominent hervorgehobene Parallele zu Johann Georg Hamann ist nicht wirkungsgeschichtlich zu betrachten, lässt dieser doch keine Anregung oder gar Beeinflussung durch Glassius erkennen. In der theologischen Sprache des 17. Jahrhunderts würde man die Abhandlung von Wenz als „thetische“ oder – gar nicht anrüchig gemeint! – als „kontroverstheologische“ Arbeit klassifizieren. Damit ist der Bedeutung dieser Monografie, die ohne bewundernswerten Fleiß und die Akribie nicht hätte zustande kommen können, kein Abbruch getan. Salomon Glassius, ein auf weite Strecken in Vergessenheit geratener Theologe des 17. Jahrhunderts wird neu ins Licht gestellt. Anhand der Darstellung dieses Theologen lassen sich die klassischen Topoi des orthodoxen Bibelverständnisses gut nachschlagen. Bei Glassius als Schüler Johann Gerhards lässt sich auf diesem Weg wohl gut erkennen, was sich in den – lateinisch geschriebenen – Werken des Lehrers für viele nicht so leicht nachlesen lässt. Für die an der Bibelhermeneutik der lutherischen Orthodoxie interessierten Forscher bietet dieses Werk also einen guten Einstieg. Dass dabei die Darstellung deutlich noch anderen Interessen als die der theologiegeschichtlichen Aufarbeitung folgt, gilt es bei der Lektüre zu berücksichtigen.

Neben den zu den erwartenden Quellen-, Literatur- und Personenverzeichnissen, gibt es ein sehr ausführliches Bibelstellenregister und eine Reihe von Abbildungen, die ein Porträt von Glassius, seine sich in Gotha befindliche Grabplatte und die Titelblätter einiger seiner Werke zeigen. Das Titelkupfer der „Kurfürstenbibel“ ist leider nicht der ersten Auflage aus dem Jahr 1649, sondern einer späteren, nämlich aus dem Jahr 1670, entnommen.


Dr. Klaus vom Orde, Edition Spenerbriefe, Sächsische Akademie der Wissenschaften, Halle an der Saale